Das Orakel von Delphi

Der Legende nach ließ der Göttervater Zeus einst zwei Adler von den Rändern der Erde her aufeinander zufliegen. Dort wo sie sich trafen, zwi-schen den Hängen des Parnass-Gebirges, wurde als Nabel der Welt Del-phi errichtet. In mykenischer Zeit (bis etwa 1100 v. Chr.) unterstand das Orakel der Erdmutter-Göttin Gaia. Später wurde es vom eingewanderten Gott Apollon erobert. Apollon war der griechische Gott alles Lichten und Hellen, der Reinheit und des Maßes, der Wahrsagung und der Künste. Er trug aber auch den Beinamen „Loxias“, der Hinterlistige, Vieldeutige.

Im 8. Jahrhundert v. Chr. begann Delphi sich zum Pilgerort zu entwickeln und war alsbald in der gesamten antiken Welt berühmt. Seine Blütezeit währte über 1000 Jahre bis ins 2. Jahrhundert n. Chr. Nach einem letzten Aufschwung unter dem römischen Kaiser Hadrian versank Delphi schließlich in der Bedeutungslosigkeit, bis der Orakelkult schließlich im Zuge der Heidenverfolgungen von Kaiser Theodosius I. (Regierungszeit 379 – 395) endgültig verboten wurde. Damit ist Delphi vermutlich das am längsten durchgehend praktizierende Orakel der Menschheitsgeschichte. Erst um 600 n. Chr. bereitete das Eindringen der Slawen der bereits maroden Stadt ihr endgültiges Ende und begrub sie in Vergessenheit.[i]

(…)

Über den Ursprung des Orakels hat Diodorus Siculus, ein Geschichtsschreiber aus dem 1. Jahrhundert v. Chr., folgendes niedergeschrieben:

„In alten Überlieferungen heißt es, dass dieses Orakel von Ziegen ausfindig gemacht wurde. (…) An der Stelle des Adyton (Allerheiligstes) des Tempels befindet sich eine tiefe Öffnung im Boden. Einige Ziegen kamen in diese Gegend, als Delphi noch nicht existierte. Als sie sich der Öffnung näherten und sich vorbeugten, beobachtete man, dass sie von einem Schwindelgefühl erfasst wurden, eigenartig umhertaumelten und ungewöhnliche Laute ausstießen.“[ii]

Der Hirte kam näher und wurde ebenfalls von einem Schwindelgefühl befallen. Göttliche Inspiration erfasste ihn, und plötzlich war er durch die aus der Öffnung im Boden ausströmenden Dämpfe in der Lage, die Zukunft vorherzusagen. Die Kunde von diesem Wunder verbreitete sich schnell. Immer mehr Neugierige kamen, um, durch die Dämpfe berauscht, einander gegenseitig die Zukunft vorauszusagen. Nachdem jedoch in dem Durcheinander jemand in den Abgrund gestürzt war, wurde die Bodenöffnung für die Allgemeinheit gesperrt. Stattdessen wurde eine Prophetin ernannt, die fortan allein für die Verkündung der Orakel zuständig war. Um die Öffnung herum wurde eine Art Apparat mit drei Stützen, der Dreifuß gebaut. So konnte die Prophetin sich gefahrlos darüber beugen, um die Inspiration zu empfangen. Schließlich wurde um die Öffnung herum der Tempel des Apollon gebaut, welcher alsbald zur bekanntesten Pilgerstätte der Antike wurde.[iii]

prognostik_orakel_delphi_500Die Pythia von Delphi auf dem Dreifuß
(Attische Trinkschale um 440 v. Chr.)

Die Prophetin wurde „Pythia“ genannt. Ursprünglich gab es nur eine Pythia, welche einmal im Jahr, zum Geburtstag Apollons, eine Audienz gab. Später wurde das Orakel einmal im Monat abgehalten. Wichtige Klienten empfing Delphi aber auch außerhalb der Öffnungszeiten, sofern die Zeichen dafür günstig standen und die Opfergaben von den Göttern gnädig aufgenommen wurden. Da Befragungen nur so selten durchgeführt werden konnten, war der Andrang an den offenen Tagen entsprechend groß. In der Hochzeit Delphis, zwischen dem 6. und 3. Jahrhundert v. Chr., mussten deshalb eine zweite Pythia und eine Hilfspythia ernannt werden, um den Ansturm zu bewältigen.

Die Pythia stammte meist aus dem einfachen Volk, da, so dachte man, ein schlichtes Gemüt die Stimme Apollons am wenigsten verfälschen würde. Sie musste strenge Reinheitsvorschriften einhalten, da ihr Körper während der Trance Apollons Geist beherbergte. Antiken Berichten zufolge saß die Pythia während der Zeremonie auf dem Dreifuß. Sie kaute dabei Lorbeerblätter und trank Wasser aus der heiligen Kassotis-Quelle. Durch die Dämpfe aus dem Boden wurde sie in „Mania“ versetzt und vom Geist Apollons ergriffen.

Wie die Befragung genau ablief ist ungewiss. Fest steht, dass die Pythia bei der Zeremonie vom Publikum durch einen Vorhang getrennt war und die Antworten spontan erfolgten. Ob diese Antworten nur aus dunklen, ekstatischen Wortfetzen bestanden und daher von den Delphi-Priestern erst interpretiert und sprachlich aufbereitet werden mussten, oder ob die Verse bereits von der Pythia ausformuliert wurden, ist umstritten.

Kritiker haben jedenfalls oft gemutmaßt, dass die Pythia nur ein willenloses, von Rauschmitteln vernebeltes Werkzeug der Priester gewesen sei. Zweifelsohne ging die weltliche Macht des Orakels von ihnen aus. Es gab zwei Delphi-Priester, die auf Lebenszeit gewählt wurden. Da dieses Amt hohes Ansehen brachte, wurde es erkauft und brachte große finanzielle Verpflichtungen mit sich, was Versorgung und Erhalt des Heiligtums betraf. Die Priester hatten auch eine Torwächter-Funktion, indem sie die Vorbereitungsrituale zur Befragung leiteten und bestimmten, ob der Tag dafür günstig war. Dabei wurde ein Opfertier, zumeist eine Ziege, mit Wasser besprengt. Nur wenn sich diese am ganzen Körper schüttelte, durfte die Pythia befragt werden. Zur politischen Dimension Delphis werden wir noch im Prognostik-Band über „Die Macht der Vorhersage“ kommen. Unter dem Gesichtspunkt der visionären Prognostik ist hingegen die Frage zentral, was es mit den mysteriösen Erddämpfen auf sich hatte.

In der Antike war es unbestritten, dass diese der Hauptquell der Orakelinspiration waren. Als jedoch die Ausgrabungen im Apollon-Tempel keine auffällige Felsspalte zu Tage förderten, wurde von den Forschern des 20. Jahrhunderts bezweifelt, dass solche Dämpfe jemals existiert hätten. Bestenfalls gestand man derartigen Berichten symbolischen Wert zu, indem man sie als Metapher für den göttlichen Geist betrachtete.[iv] Erst im Jahre 2004 gelang dem Geologen Jelle de Boer der Nachweis, dass es in Delphi durchaus derartige Felsspalten gegeben hat und aus diesen Gase ausgetreten sind. Er untersuchte Gesteinsproben in der Nähe des Heiligtums:

„Wir haben Proben des Gesteins zerbröselt und analysiert, welche Gase in den kleinen Löchern eingeschlossen waren. Die Untersuchung ergab, dass zusammen mit dem Wasser Ethylen, Methan und Ethen an die Oberfläche gelangten.“[v]

Ethylen hat narkotisierende Wirkung und verändert die Hirnaktivitäten. Demnach müsste sich die Pythia in einer tranceartigen Benommenheit befunden haben und nicht in ekstatischer Raserei, wie manchmal gemutmaßt worden ist. Eine kontemplative Versunkenheit würde auch besser zum geordneten Charakter Apollons passen. Womöglich wurde dieser Zustand durch zusätzliche Rauschmittel verstärkt, etwa durch den Rauch betäubender Kräuter. Bei falscher Dosierung kann Ethylen zu „Horrortrips“ führen, und der Berauschte läuft panisch davon. Auch von diesem Phänomen haben Beobachter des Orakels immer wieder berichtet. Die Ethylen-These würde auch erklären, warum das Orakel in den Wintermonaten stets geschlossen wurde. Wenn es weniger Wasser gibt, dann gibt es auch weniger Gas und somit weniger Gelegenheit für die Pythia zum Wahrsagen. Zudem wurden mittlerweile auch in der Türkei Apollon-Heiligtümer gefunden, welche über Spalten mit aufsteigenden Gasen errichtet worden sind.[vi]

(…)

Delphi war bereits in der antiken Welt umstritten und Ziel vieler Polemiken. So erzählt auch Plutarch in seiner Schrift „De Pythiae Oraculis“ von einem Gast in Delphi, der sich über die mindere Qualität der Orakelverse beschwerte, wo man Apollon als Gott der Musen doch eigentlich nur die besten Gedichte zutrauen dürfte.[vii] Vor allem die Zweideutigkeit vieler Prophezeiungen gab schon damals Anlass zur Kritik, denn sie sorgte dafür, dass die Vorhersage in jedem Fall richtig sein musste. So erhielt Pyrrhos, der König von Epeiros, vor seinem Feldzug gegen die Römer (282 – 272 v. Chr.) den Orakelspruch: „Wahrlich, das Volk der Römer wird Aiakos’ Enkel besiegen.“[viii] Wer im Nominativ und wer im Akkusativ steht bleibt dabei unklar, sodass Delphi in jedem Fall Recht behalten musste.

Dennoch festigten einige legendäre (doch historisch meist unbelegte) Prophezeiungen Delphis Ruhm für viele Jahrhunderte. Die wohl bekannteste erging an den Lyderkönig Kroisos (etwa 595 – 546 v. Chr.), der für seinen ungeheuren Reichtum berühmt war und im Sprachgebrauch bis heute als „Krösus“ fortbesteht. Herodot, der Vater der griechischen Geschichtsschreibung, berichtet, dass Kroisos verschiedene Orakelstätten auf die Probe stellen wollte, um herauszufinden, welcher er vertrauen könne. Er schickte Boten aus mit der Frage, womit er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt beschäftigen würde. Die Pythia antwortete:

„Ich kenne die Anzahl der Sandkörner und das Ausmaß des Meeres. Mich verstehen die Tauben, und ich verstehe die Stummen. Der angenehme Geruch der Schildkröte mit den harten Panzerschuppen durchdringt meine Sinne, gekocht im Kupfer mit dem Fleisch des Lammes. Das Kupfer unten bedeckt die Erde und Kupfer bedeckt sie.“[ix]

Die Boten kehrten mit den Antworten zurück. Doch alle waren falsch. Nur Delphi hatte richtig gelegen, denn zum gegebenen Zeitpunkt hatte Kroisos aus einer spontanen Laune heraus eine Schildkröte und ein Lamm in Stücke geschnitten und sie zusammen in einem Kupfertopf mit einem Kupferdeckel kochen lassen. Dennoch hat die Pythia ihm am Ende kein Glück gebracht. Aufgrund des Orakelspruchs: „Mächtiges Reich wird zerstört, geht Kroisos über den Halys.“[x] griff er das Perserreich an und wurde vernichtend geschlagen. Das zerstörte, mächtige Reich war sein eigenes.[xi]

FUSSNOTEN

[i] Maaß (1996), S. 11ff
[ii] Diodorus in Rachet (1982), S. 52
[iii] Diodorus in Rachet (1982), S. 56
[iv] Maaß (1996), S. 15
[v] De Boer in Dokumentation Terra X: Das Delphi-Syndikat, ZDF am 15.8.2004
[vi] De Boer in Dokumentation Terra X: Das Delphi-Syndikat, ZDF am 15.8.2004
[vii] Plutarch in Schröder (1990), S. 133
[viii] Cicero (44 v. Chr.), S. 139
[ix] Herodot in Rachet (1982), S. 65
[x] Cicero (44 v. Chr.), S. 139
[xi] ausführliche Darstellung Herodots Geschichte über König Kroisos in Giebel (2001), S. 38ff

LITERATUR

Cicero, Marcus Tullius (44 v.Chr.) De Divinatione, in der deutschen Übersetzung von Raphael Kühner (o.A.), München: Wilhelm Goldmann Verlag

Giebel, Marion (2001) Das Orakel von Delphi – Geschichte und Texte, Stuttgart: Reclam Verlag

Maaß, Michael (1996) Delphi – Orakel am Nabel der Welt, Sigmaringen: Thorbecke Verlag

Rachet, Guy (1982) Delphi – Das Heiligtum der Griechen, Freiburg: Herder Verlag

Schröder, Stephan (1990) Plutarchs Schrift De Pythiae Oraculis, Stuttgart: B.G. Teubner Verlag

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Niederwieser, Christof (2015) Prognostik 01: Zukunftsvisionen, Norderstedt: BoD – Books on Demand, S. 25ff

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