Die Shang-Dynastie war die erste chinesische Dynastie, deren Existenz direkt durch schriftliche Überlieferungen belegt ist. Sie erstreckte sich über 500 Jahre, vom 16. bis zum 11. Jahrhundert v. Chr. Es herrschte ein ausgesprochener Ahnenkult. Parallel zur Hierarchie der Lebenden gab es eine Hierarchie der Toten. Dabei standen die ältesten Ahnen an der Spitze. Insbesondere der Adel betrieb einen enormen Aufwand, um die Verstorbenen mit Opfern gnädig zu stimmen. Der Kaiser hatte eine Sonderstellung inne, denn seine Vorfahren dienten im Jenseits direkt am Hof der allmächtigen Gottheit „Shang Di“. So war es ihm möglich, durch Vermittlung seiner Ahnen mit der höchsten göttlichen Kraft in Verbindung zu treten. Die Kommunikation erfolgte über Orakelknochen.
Das Ausgangsmaterial bildeten entweder Schildkrötenpanzer oder die Schulterknochen von Rindern. Diese wurden vor der Befragung aufwendig präpariert. Zuerst reinigte man sie von Fleisch und Knorpeln und sägte sie gemäß einer genau vorgeschriebenen Form zurecht. Dann wurden sie sorgfältig geschrubbt und poliert, bis sie wie Jade glänzten. Alle Unebenheiten wurden abgeschliffen, wobei akribisch darauf geachtet wurde, dass Panzer oder Knochen überall eine gleichmäßige Dicke aufweisen. Schließlich wurden Löcher und Vertiefungen hineingebohrt an exakt festgelegten Stellen, welche der Symmetrie des Panzers folgten. Die ganze Prozedur dauerte etwa neunzig Stunden.
Beim Divinationsritual richtete meist der Kaiser selbst seine Frage an die präparierten Panzer und Knochen. Dann wurde ein glühender Gegenstand, vermutlich ein Ast aus Hartholz, in eine der Vertiefungen gehalten, bis unter lautem Krachen ein Sprung entstand. So wurde mit mehreren Vertiefungen verfahren, bis aus dem Set von Sprüngen die Antwort feststand. Wenn die Aussage eindeutig war, so wurde den Ahnen ein Tier geopfert. War die Antwort jedoch widersprüchlich, so musste die ganze Prozedur wiederholt werden. Die Beantwortung einer Frage konnte dadurch Stunden oder gar Tage dauern. Nach der Divination wurden die Panzer beschriftet und archiviert.[i]
Die eingravierten Inschriften der Orakelknochen sind die ältesten Zeugnisse einer vollständig entwickelten Schrift östlich des Indus und ein direkter Vorläufer der bis heute in China verwendeten Logogramme. Die chinesische Schrift entspringt somit dem Drang nach Archivierung von Prognosen. Die Knocheninschriften konnten zu einem großen Teil entschlüsselt werden und gewähren tiefe Einblicke in das Leben der Shang.[ii] Sie sind standardisiert und bestehen zumeist aus vier Teilen. Im Vorwort werden Datum und Name des Wahrsagers, manchmal auch der Ort genannt. Es folgt eine Darstellung der Frage (Mingci), zumeist in Form einer Aussage, welche das Orakel bestätigen oder verneinen soll. Schließlich wird die Vorhersage des Kaisers festgehalten. Auf manchen Orakelknochen finden sich auch Aussagen darüber, inwieweit die Vorhersage eingetroffen ist. Jeder Panzer wurde für längere Zeit archiviert und schließlich in Erdgruben vergraben. So wusste man auch lange Zeit nichts mehr von ihnen, bis sie Ende des 19. Jahrhunderts zufällig von Bauern entdeckt wurden.[iii] Hier ein paar typische Knocheninschriften:[iv]
Vorwort:
Erzeugung von Sprüngen am Tag jimao, Que befragt das Orakel:
Aufgabe:
Es wird regnen?
Voraussage:
Der König weissagt aus den Sprüngen lesend: Es wird regnen. Es wird ein ren-Tag sein.
Bestätigung:
Am Tag renwu (19. Tag) regnete es wirklich.
Ein weiteres Beispiel:
Vorwort:
Erzeugung von Sprüngen am Tag guisi (30. Tag), Que befragt das Orakel:
Aufgabe:
In den nächsten zehn Tagen wird es kein Unglück geben?
Voraussage:
Der König weissagt aus den Sprüngen lesend: Es wird Leid geben; es wird vielleicht eine beunruhigende Nachricht eintreffen.
Bestätigung:
Am fünften Tag, einem dingyu-Tag (34. Tag) traf wirklich eine beunruhigende Nachricht aus dem Westen ein. Zhi Guo berichtete: „Die Tufang bedrängen unsere östlichen Grenzen und haben zwei Ortschaften Schaden zugefügt“ Auch die Gongfang haben die Felder an unseren westlichen Grenzen geplündert.
Der Kaiser verbrachte jeden Tag viele Stunden mit der Befragung des Knochenorakels. Sämtliche Entscheidungen wurden auf ihrer Grundlage getroffen. Nahezu alle wichtigen Aspekte des öffentlichen Lebens wurden vom Orakel bestimmt. Es legte täglich fest, welchen Ahnen man welche Opfergaben zu erbringen hatte. Es offenbarte, ob die Zeit günstig war für Kriegszüge, Jagd, Ausflüge, Bauvorhaben, Gesetzeserlässe oder Verwaltungsverordnungen. Es sagte das Wetter voraus und kommende Ernten. Es gab Auskunft über die Ursache von Krankheiten, Unglücksfällen oder schlechten Träumen, bestimmte, ob die Schwangerschaft einer der Frauen des Kaisers gut oder schlecht war. Jeden Tag versicherte man sich aufs Neue, ob es in der kommenden Nacht oder am kommenden Tag kein Unglück geben werde. Selbiges tat man jeweils am letzten Tag der Zehn-Tage-Woche für die kommende Woche.[v]
Während viele Kulturen die aufwändigen Orakel nur aus gewichtigen Anlässen befragen, holten die Shang auch für Tagesgeschäfte und kurzfristige Angelegenheiten den Rat der Ahnen ein. Obwohl das Knochenorakel derart exzessiv als Entscheidungsmaschine herangezogen worden ist, lässt sich bei den Shang kein Prozess der Trivialisierung oder Vulgarisierung feststellen. Vielmehr wurde das Divinationsritual im Vergleich zu früheren Formen der pyromantischen Knochendeutung immer komplexer und aufwendiger.
Etwa 1250 bis 1050 v. Chr. erreichte es seinen Höhepunkt. Die Schildkrötenpanzer wurden in großen Mengen aus weit entfernten Gegenden importiert. Aufzeichnungen berichten über Lieferungen von bis zu 1.000 Stück auf einmal. Bislang wurden über 100.000 Knochen mit wahrsagerischen Inschriften gefunden. Das Ausmaß des Orakeltums und sein Einfluss auf die Geschicke der Shang-Kultur waren gigantisch. Der Wahrsage-Prozess wurde auch nicht mit der Zeit an niedrigere Beamte weitergegeben, wie dies beispielsweise bei den Auspizien im Alten Rom der Fall war. Vielmehr war es gegen Ende der Dynastie sogar üblich, dass das Orakel ausschließlich vom Kaiser höchstpersönlich gedeutet wurde. Selbst nach Ende der Shang-Dynastie hielten sich Pyro-Scapulaemantik (Schulterknochen-Orakel) und Plastromantik (Schildkrötenpanzer-Orakel) noch lange an den Höfen der chinesischen Kaiser, bis weit in die nachchristlichen Jahrhunderte hinein.
FUSSNOTEN
[ii] Keightley in Lutz (1999), S. 19
[iii] Keightley (2000), S. viii ff
[iv] Keightley in Lutz (1999), S. 29
[v] Keightley in Lutz (1999), S. 25ff; Chang (1970)
[i] Gotshalk (1999), S. 3ff
LITERATUR
Chang, Tsung-Tung (1970) Der Kult der Shang-Dynastie im Spiegel der Orakelinschriften, Wiesbaden: Otto Harrassowitz
Gotshalk, Richard (1999) Divination, Order, and the Zhouyi, Lanham: University Press of America
Keightley, David (2000) The Ancestral Landscape – Time, Space, and Community in Late Shang China (ca. 1200 – 1045 B.C.), Berkeley: University of California
Lutz, Albert u.a. (1999) Orakel – Der Blick in die Zukunft, Zürich: Museum Rietberg
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Niederwieser, Christof (2016) Prognostik 02: Zeichendeutung, Trossingen: Zukunftsverlag, S. 123ff
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